Unliebsame Gefühle
Um was handelt dieser Artikel?
Am liebsten haben wir es warm, trocken und geborgen. Wir wollen handlungsfähig sein, uns kompetent und als Herr oder Herrin der Lage fühlen. Gefühle wie Unsicherheit, Orientierungslosigkeit oder körperliches Unwohlsein versuchen die Meisten von uns tunlichst zu vermeiden. Dieser Text beschäftigt sich mit dem Gedanken, warum wir uns diesen unliebsamen Gefühlen trotzdem stellen sollten, was es dabei zu beachten gilt und was wir damit gewinnen können.
Sollen wir immer „leicht positiv gestimmt“ sein?
Der Psychologe Michael Boiger erwähnt in einem Interview mit der Zeit Online, dass der Mensch grundsätzlich «nach einem leicht positiv gestimmten Zustand» strebt. Dies sei auch sinnvoll findet er, denn ein leicht im Positiven eingependelter Emotionshaushalt sei auf die Dauer für den Menschen und seine Umgebung am Unproblematischsten. Der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth formuliert es so: «Lernen ist ein für das Gehirn aufwändiger und stoffwechselphysiologisch teurer und mit Risiken behafteter Prozess».
Mein Eindruck aus meinem persönlichen Umfeld und bei mir selbst kommt zu einem ähnlichen Schluss: Am liebsten haben wir es warm, trocken und geborgen.
Wir wollen handlungsfähig sein, uns kompetent und als Herr oder Herrin der Lage fühlen. Gefühle wie Unsicherheit, Orientierungslosigkeit oder körperliches Unwohlsein versuchen die Meisten von uns tunlichst zu vermeiden.
Herausforderungen meistern macht stark
Es gibt viele Gründe, warum man sich Herausforderungen und den damit verbundenen anstrengenden Gefühlen stellen sollte. Beispielsweise ist es so, dass je öfter wir etwas Anspruchsvolles bewältigen können, desto zuversichtlicher werden wir, dass wir in Zukunft auch andere anspruchsvolle Situationen bewältigen können. Unsere Sicht auf Herausforderungen wird positiver und mit der Zeit werden wir guten Mutes Wagnisse in Angriff nehmen, denn unsere Erfahrung sagt uns, dass wir schon irgendwie einen Weg finden werden. Diese Fähigkeit hilft uns im Leben ungemein, denn sie ermöglicht es uns, auch nicht abweisbare Schicksalsschläge bewältigen zu können.
Die Erfahrung gibt uns in ausweglos scheinenden Situationen die Zuversicht und der Glaube, dass sich Lösungen finden werden.
Diese Fähigkeit wird in der Psychologie als Resilienz beschrieben.
Ich habe kalt, na und?
Ein Beispiel, dem wir in der Arbeit mit Menschen in der Natur immer wieder begegnen ist der Umgang mit der Empfindung der Kälte. Besonders, wenn wir für längere Zeit draussen sind und auch im Freien übernachten, kann frieren plötzlich sehr bedrohlich werden.
Ich schlottere und habe kalt, fühle mich steif und kann vielleicht nicht mehr ganz so frei denken. Aber warum macht mir das Angst? Könnte es sein, dass es nicht der jetzige Zustand ist, der Angst macht, sondern die Befürchtung, dass es so bleiben oder gar noch schlimmer werden könnte?
Ganz weit hinten in der Gedankenkette kommt: Ich könnte erfrieren. Sterben. Wer viele Male draussen geschlafen hat weiss: ich kann ein Feuer machen und warme Kleider anziehen und mich bewegen. Ich bin handlungsfähig und zuversichtlich, dass ich etwas gegen die Kälte tun kann. Dann ist die Angst viel kleiner, vielleicht nicht mal wahrnehmbar. Jemand, der noch nie draussen geschlafen und gefroren hat, weiss nicht sofort, was er dagegen tun kann. Hat er oder sie jedoch Übung mit unbekannten Situationen, dann hilft diese Erfahrung auch da. Sie lässt einem ruhig und zuversichtlich bleiben und nach Lösungen suchen.
Unsicherheiten und Fehler gehören dazu
Lässt man sich auf eine neue Erfahrung ein, dann kann es gut sein, dass man sich unsicher fühlt und nicht weiss, wie man sich verhalten soll. Ich dachte viele Jahre lang, es sei ein schlechtes Zeichen, wenn ich mich unsicher oder orientierungslos fühle. Klar, das Gefühl an sich ist nicht angenehm, aber es wurde noch viel schlimmer, weil ich dachte, dass es nicht so sein sollte. Es machte mir den Anschein, dass die meisten Menschen ihre Aufgaben völlig im Griff haben und dass das auch so sein muss.
Ich hatte Angst davor, Fehler zu machen, denn in unserer Welt sind Fehler etwas Schlechtes. Fehler sollten vermieden werden.
Doch, lernen wir nicht erst dadurch, dass wir Fehler machen? Ist es nicht normal, dass man beim Betreten von Neuland Fehler macht?
Gefühle annehmen befreit
Gelingt es einem, sich vor sich selbst und vor Anderen Fehler, Ängste, Unpopuläres und Anstrengendes einzugestehen, gewinnt man plötzlich die Freiheit, sich den Gefühlen zuwenden zu können. Erst, wenn man nicht mehr damit beschäftigt ist, diese Gefühle verhindern oder vertuschen zu wollen, kann man sich ihnen wirklich stellen. Für mich ist es noch immer sehr befreiend, wenn ich feststelle, dass ich mich nicht mehr in der Komfortzone befinde und dies gut ist so. Nicht immer gelingt es mir aber wer ist schon perfekt? Nun kann ich immer wieder völlig neuen Fragen nachgehen:
Was will mir dieses Gefühl sagen? Wie fühlt es sich genau an? Woher kommt es? Was passiert mit mir? Wie könnte ich dem nun auch noch anders begegnen?
Interessanterweise wird das Gefühl dabei kleiner, interessanter, harmloser, weniger abwehrbedürftig und es gehen Wege für wichtige Entwicklungsschritte auf. Was viele Menschen dabei hemmt, diese Gefühle in Ruhe betrachten zu können ist die bei uns verwurzelte Kultur, dass Angst, Unsicherheit und Co an sich zu vermeiden sind. Dabei können wir von diesen Gefühlen so viel lernen…
Bin ich bereit?
Es gibt einige Aspekte, die in der Auseinandersetzung mit unangenehmen Gefühlen hilfreich sind: Ein gesunder Energiehaushalt ist in jedem Fall wichtig. In unserer Welt tendieren wir dazu, uns mengenmässig ganz viel zuzutrauen und uns wenig Pause und Entspannung zu gönnen. Dies kann dazu führen, dass unser Energielevel grundsätzlich zu tief ist, um uns grosse oder kleine Herausforderungen unbekanntem Ausgangs zuzutrauen.
In dem Sinne: Vielleicht ist manchmal weniger mehr?
Wäre es nicht langfristig förderlicher für uns, wenn wir mengenmässig weniger machen würden und dafür die Energie und Lust hätten, uns ab und zu inhaltlich richtig herauszufordern?
Die Fähigkeit, die eigene Energie massvoll einsetzen zu können ist eine Schlüsselkompetenzen der Burnout-Prävention.
Auch traut uns das Leben immer wieder Situationen zu, die Energie und Aufmerksamkeit erfordern, auch wenn wir uns das so nicht aussuchen würden. Da lohnt sich eine sorgfältige Prüfung, bevor wir uns für ein Wagnis entscheiden.
Habe ich die Energien zur Verfügung oder muss ich sie zwingendermassen an einem anderen Ort einsetzen?
Auch lohnt es sich zu überlegen, welche Herausforderungen man annehmen will und welche nicht. Wem ist es noch nie passiert, dass er oder sie sich etwas vornahm, dass einem selber eigentlich gar nicht so wichtig war? Man tat es, weil es so von einem erwartet wurde. Oder weil man in jenem Moment dachte, es selber zu wollen; aber bei genauerer Betrachtung musste man feststellen, dass dafür eigentlich gar kein inneres Feuer brannte. Wofür möchte man also seine naturgemäss limitierten Energien einsetzen? Für das, wofür in einem ein Feuer brennt? Oder für das, was von einem erwartet wird?
Partizipation und Entschleunigung als Erfolgsfaktoren
Wenn wir mit Kindern und Jugendlichen in den Wald gehen, ein Trekking erleben oder in einem Iglu übernachten, laden wir sie zu grossen und kleinen Wagnissen ein. Oftmals freuen sie sich einfach auf das, was kommt. Wir sind uns jedoch auch bewusst, dass unsere Unternehmungen Angst machen und Unsicherheiten auslösen können. Die Kinder und Jugendlichen kommen, wie wir selber auch, aus einer fehlerfeindlichen Umgebung und es ist nicht selbstverständlich, dass sie sich auf jedes Wagnis begeistert einlassen wollen. Vor allem, wenn sie nicht sehen können, wie sie es bewältigen sollen. Wir haben Verständnis, wenn ein Kind sich nicht auf ein Wagnis einlassen will. Wer weiss besser als das Kind, ob es die Energie dafür im Moment hat?
Darum halten wir die Partizipation hoch, ein möglichst grosses Mitspracherecht für das Kind und für einen passenden Weg ist uns wichtig. Wir sind langsam unterwegs und nehmen uns Zeit, die Prozesse achtsam begleiten und eine offene Gesprächskultur etablieren zu können.
Es ist gut, wenn unangenehme Gefühle auftauchen und Aufmerksamkeit einfordern. Rückmeldungen von Teilnehmenden wie „Danke, dass wir dies machen mussten“ ermutigen uns in unserem Tun. Ausserdem geben wir unser Bestes, selbst fehlbar zu sein. Denn wie sollen Kinder und Jugendliche sonst lernen, dass das okey ist?