Lisa und Max kommen nicht zur Schule
Von Schulabsentismus bis zum Schulausschluss – wenn Regeln, Strukturen, Hilfsmassnahmen nicht mehr greifen, kommen die Öffentlichen Schulen an ihre Grenzen. Dann braucht es alternative Lösungen. Im folgenden zeigen wir zwei Entwicklungen aus unserer Praxis auf.
Von Noemi Wyrsch
Nebel hängt über der Wiese, in der Ferne hört man die Kuhglocken bimmeln und kühle Luft zieht um die Ohren. Max kommt angestapft. Pünktlich, 08.15 Uhr. Bevor wir loslegen können, müssen wir Holz hacken und den Ofen anfeuern. Wir richten uns ein, der Morgen hält uns noch etwas schweigsam. Die Arbeit hilft, richtig wach zu werden und anzukommen. Das rhythmische Schlagen der Axt hallt über die Wiese, Max ist es wichtig, den ganzen Korb mit Holz zu füllen. Es ist ein schöner Moment, wo Motivation zu tatkräftiger Umsetzung führt – das war nicht immer so.
Bisherige Lösungen versagen
Max ist aufgrund von Verhaltensproblemen in der Schule in ein Time-out gekommen. Unterrichtsstörungen, oppositionelles Verhalten gegenüber Lehrpersonen, am Fenster von anderen Klassen den Clown machen – gehörte alles zur Tagesordnung. Im Time-out gab es weitere, auch schwerwiegendere Grenzverletzungen, bis es auch dort zu seinem Ausschluss gekommen ist.
Bei Lisa liegt der Fall etwas anders. Sie kommt gar nicht mehr zur Schule. Erst nur Lektionen, dann Tage- und schliesslich wochenweise. Schulabsentismus ist ein Phänomen, das zunimmt und dementsprechend auch mediale Aufmerksamkeit erhält. Konkrete Zahlen gibt es keine, aber von 17 Kantonen melden 14 einen gefühlten Anstieg der Fälle von Schulabsentismus.[1]
Wenn Regeln, Hilfsangebote, Schulwegbegleitungen und individuelle Stundenpläne nicht mehr helfen, stossen die Regelschulen an ihre Grenzen.
So war es auch bei Lisa. Es ist klar, sie wird eine Sonderschule besuchen, kann aber erst in ein paar Monaten einsteigen – bis dahin braucht es eine Zwischenlösung. In der Schweiz herrscht Schulpflicht.
Zelt am Waldrand: eine Möglichkeit für Einzelunterricht
Lisa und Max landen bei uns, im Einzelunterricht. Das Zelt am Waldrand, wo ein neuer Lernort, neue Bezugspersonen und individuelle Inhalte neue Verhaltensmuster möglich machen. Wo wir Zeit und Ressourcen haben, Bedürfnisse wahrzunehmen, zu benennen und auch umzusetzen.
Bis der Druck aus dem System etwas herausgekommen ist und Lernen wieder möglich wird. Lernen, nicht nur Gleichungen nach X aufzulösen, sondern auch das eigene Unbekannte herauszukristallisieren: Wann wird mir alles zu viel? Was hilft mir, mich zu konzentrieren? Warum werde ich wütend – und was mache ich mit meiner Wut?
In enger Zusammenarbeit mit der Schule, den Eltern und dem Schuldienst helfen wir unseren Lernenden auf ihrem weiteren Weg.
Ist die Sonderbeschulung bei Max wirklich die richtige Lösung?
Bei Max ist zuerst noch unklar, wohin der führen soll, ob eine Reintegration für die öffentliche Schule tragbar ist oder nach einer Sonderbeschulung gesucht werden muss.
Im Zelt am Waldrand zeigt er Fortschritte. Er reflektiert die Geschehnisse, erhält die nötigen Abklärungen und Medikamente und kann im nächsten Gespräch mit der Lehrperson und der Schulleitung klar ausdrücken, dass er gerne zurück in seine Regelklasse möchte – und zu welchen Veränderungen er bereit ist.
Wir erstellen einen Unterstützungsplan mit Schulbesuchen und Coachings für die Lehrpersonen. Wir begleiten die Übergangsphase vom Zelt am Waldrand zurück zur Schule intensiv. Und Max erhält nach Abschluss des Einzelunterrichtes wöchentliche Begleitungssquenzen durch uns - reintegriert in der öffentlichen Schule (Begleitung im Sinne einer systemischen Einzelbegleitung)
Übergang in die Sonderschule für Lisa
Währenddessen konnte Lisa ihre Schulpräsenz erhöhen - sie hat die Natur für sich entdeckt und kommt freudig mit auf einen Kanu-Ausflug. Auch ihr Vater zeigt sich begeistert vom Feuer machen – sie haben eine gemeinsame Ressource gefunden. Bis zum Einstieg in die Sonderschule kann Lisa Selbstvertrauen aufbauen. In der Sicherheit vom Einzelsetting und dem Aufbau von Selbstwirksamkeit im Outdoor kann sie ihre Batterien füllen und mit gestärktem Selbstbewusstsein die Sonderschule antreten.
Vom Kindergarten bis zur Oberstufe – im Zelt am Waldrand haben wir die Möglichkeit, Lernende während Time-outs, Zwischenlösungen und auf der Suche nach der für sie passenden Beschulungsform zu begleiten. Individuell, ressourcenorientiert und immer mit Einbezug des gesamten Netzwerks.
[1] https://www.bildungschweiz.ch/detail/schwaenzen-kann-ein-notsignal-sein
